Es war bereits nach Mitternacht, als Leon Sona, Kommissar bei
der Berliner Mordkommission, plötzlich von dem Klingeln seines
Handys aufwachte. Gerade rechtzeitig, denn eine dunkle Person
hatte ihn durch seine Träume gejagt. Eine halbe Stunde später
stand er verschlafen in einer dunklen städtischen Gasse vor ei-
nem Club und wartete auf Inspektor Lisewic, der ihn hergebeten
hatte. Das war nicht einfach nur ein Club, es war ein Tatort! Der
grauenhafte Anblick des Toten ließ ihn kurz schaudern, doch er
musste sich zusammenreißen. „Der Mann war Türsteher, mehr-
mals vorbestraft und es sind keine Familienmitglieder bekannt“,
erklärte Inspektor Lisewic und fuhr fort: „Er ist gegen 11 Uhr von
hinten mit einem Metallrohr erschlagen worden und wurde kurz
darauf von einem Passanten tot aufgefunden.” Sona und Lisewic
untersuchten den Tatort genau und befragten die Besucher des
Clubs, die zu dem Todeszeitpunkt vor Ort gewesen waren. Keiner
hatte etwas gesehen. Ein düsteres Geheimnis lag über dem Tatort.
Der Wecker klingelte viel zu früh. Sona fühlte sich, als ob er
die Augen gerade erst geschlossen hätte. Zerschlagen und über-
müdet reichten seine Gedanken kaum weiter als bis zur Kaffee-
maschine. Doch sobald er an einem Fall arbeitete, konnte ihn
nichts mehr abhalten. Völlig ohne Erinnerung, wie er ins Bett ge-
kommen war, stolperte er aus dem Bett, über den Berg mit der
schmutzigen Wäsche. Schuhe voller Erdklumpen lagen im Gang,
ein Spaten und eine ausgerissene Gartenzaunstange standen im
Flur. „Ich muss das Zeug wieder runter in den Garten bringen“,
dachte Sona, während er in die Küche stolperte. Seine Augen trän-
ten. Kurze Zeit später saß er mit einem Becher Kaffee in der Hand
im Auto und machte sich auf den Weg zur Polizeistation.
Dort angekommen besah er sich nochmal jedes bekannte De-
tail. „Weiß man, wer zu der Zeit des Mordes in dem Club war?“,
fragte Kommissar Sona seinen Kollegen, Inspektor Lisewic. „Wir
haben eine Liste mit den Personen, die zu dem Zeitpunkt da wa-
ren“, meinte Lisewic und schlenzte ihm die Liste gelangweilt auf
den Schreibtisch. „Aber niemandem ist etwas Verdächtiges aufge-
fallen. Und natürlich hat auch niemand die Tat beobachtet. Kein
Wunder in dem dunklen Schuppen … Allerdings haben wir in der
Tasche des Opfers ein Handy gefunden. Möchtest du es sehen?“
„Ja, bitte“, antwortete Sona, „endlich mal etwas, das mich weiter-
bringt.” Er durchsuchte das Handy nach irgendetwas Verdächti-
gem. Zuerst schien auch alles normal, bis er auf einen Chat mit
einem gewissen Jim Kram stieß. Dieser hatte dem Toten vor einer
Woche gedroht, dass „etwas Schlimmes passieren würde, wenn
er ihm nicht sein Geld zurückgeben würde.“ „Wer ist das?“, fragte
Sona, „und was hat es mit dem Geld auf sich?“ „Offenbar ging es
hierbei um Schulden, die das Opfer bei Kram hatte“, antwortete
Lisewic und ergänzte: „Die Mordwaffe wurde übrigens sehr wahr-
scheinlich aus einem rostigen Gartenzaun in der Nähe herausge-
brochen.“ „Konnte sie sichergestellt werden?“ „Nein“, meinte Li-
sewic. „Der Täter muss sie mitgenommen haben.“ „Okay“, meinte
Sona zu Lisewic, „ich werde mal schauen, was ich über den Ver-
dächtigen herausfinden kann und wo er sich gestern Nacht auf-
gehalten hat. Befrag du bitte weiter die Zeugen.“
„Dieser Jim Kram hatte höchstwahrscheinlich ein Motiv“,
dachte der Kommissar, während er das Büro verließ. Dass er das
Opfer wegen des Geldes getötet hatte, erschien plausibel. Denn
Gewalt wurde von vielen als Mittel eingesetzt, um Schulden ein-
zutreiben. Aber irgendetwas war seltsam, entzog sich seiner Er-
innerung. Sona blätterte seine Notizen durch. „Egal, jetzt konzen-
triert arbeiten!“, ermahnte sich Sona selbst.
Der Vormittag brachte keine neuen Erkenntnisse. Krams gab
es in Berlin Hunderte. Und auch Lisewics Befragung der Zeugen
brachte nichts. Keinerlei Hinweise, keine Tatzeugen. Schließlich
fand Lisewic doch noch im Telefonbuch einen Jim Kram, der in
Frage kam. Sona heftete sich sofort an seine Spur. Er besorgte
sich einen Durchsuchungsbefehl für Krams Wohnung. Dort wur-
de man schnell fündig: Handschuhe mit Blut. Nach einer Unter-
suchung im Labor stellte sich heraus, dass es das Blut des Verstor-
benen war. Der Fall schien klar.
Jim Kram wurde kurz darauf aufgrund der eindeutigen Indi-
zien verhaftet. Vor dem Haftrichter hatte er immer wieder beteu-
ert, unschuldig zu sein. Er habe dem Mann wohl gedroht, um das
Geld zurückzubekommen. Aber er hätte ihn niemals angerührt.
Der Richter konnte angesichts der vorliegenden Beweise nicht
anders: Kram wurde in Untersuchungshaft gesteckt. Der Fall
schien für alle abgeschlossen – Mörder gefunden!
Sona musste nur noch einen Abschlussbericht schreiben.
Doch sein Instinkt warnte ihn: Das war zu glatt gelaufen. Die Dro-
hung auf dem Smartphone, die blutigen Handschuhe in Krams
Wohnung. Irgendetwas stimmte nicht. Sein Verstand hämmerte
ununterbrochen. Das konnte es noch nicht gewesen sein. Irgend-
ein Detail fehlte. Irgendetwas hatte er übersehen. Doch was? Ge-
rade als er dabei war, die letzten Wörter zu tippen, klingelte das
Telefon. Am Hörer war die Freundin von Jim Kram. Sie schwor,
dass der Angeklagte niemals zu einem Mord fähig wäre. Nun ja,
das hörte Sona oft. Viel wichtiger war aber: Er konnte es gar nicht
gewesen sein. Die Frau hatte den ganzen Abend zusammen mit
Kram im Kino verbracht. Sie kam vorbei und zeigte die Kinokar-
ten vor. Das war der Beweis. Kram konnte diesen Mord nicht be-
gangen haben – zumal das Kino auch am anderen Ende der Stadt
lag. Das Alibi war wasserdicht. Sona musste Kram laufen lassen.
Die Ermittlungen standen wieder am Anfang. Sona warf sei-
nen gerade fertig gestellten Abschlussbericht frustriert in den Pa-
pierkorb. Er musste den Fall wohl oder übel wieder aufnehmen.
Kram hatte nicht gelogen. Die Frau war bei ihm gewesen! Wie wa-
ren dann aber die Handschuhe mit dem Blut in seine Wohnung
gelangt? Kannte Kram den Mörder? Oder wollte jemand ihm die
Schuld in die Schuhe schieben? Sona stand wie vor einer Wand,
durch die seine Blicke nicht drangen. Was war dahinter? Was hat-
te er übersehen? Während er über diesem Rätsel brütete, traf ein
weiterer Anruf bei der Polizeizentrale ein. Die Leiche des Türste-
hers sei aus der Leichenhalle verschwunden. Lisewic und Sona
fuhren mit Blaulicht ins Büro des Leichenbeschauers. Aber auch
hier gab es keine entscheidenden Hinweise. Ein Schuhabdruck
wie von einem Gartenstiefel, Schleifspuren voll schwerer Erde –
nichts was die beiden Ermittler weiter brachte.
„Jetzt wird‘s psychologisch“, knurrte der Inspektor, als er den
schweren Dienstwagen mit quietschenden Reifen durch die Ber-
liner Innenstadt steuerte. „Wer macht denn so etwas? Hast du so
etwas schon erlebt? Irgendwie gruselig.“ „Ich weiß nicht“, meinte
Sona gedankenverloren auf dem Beifahrersitz. „Sieht nach einem
Profi aus: keine Leiche, keine Tat. Ganz schön durchtrieben.“ „Der
Täter, der die Leiche gestohlen hat, muss Insiderwissen haben.
Sonst wäre er da gar nicht ungesehen rein- und wieder rausge-
kommen. Aber wieso hinterlässt er dann so offensichtliche Spu-
ren wie in einem Gartencenter?“ „Vielleicht gibt es eine dunkle
Seite in ihm, die gefunden werden will“, murmelte Sona vor sich
hin. Laut sagte er: „Das war ein harter Tag, lass uns morgen noch
einmal ganz von vorne anfangen und jedes Detail noch einmal
beleuchten.“
Spät abends kam der Kommissar müde, verwirrt und sehr
durcheinander nach Hause. Während er den Schlüssel heraushol-
te und die Tür träge mit einem müden Stoß öffnete, beschlich ihn
ein unheimlicher Schauder. Es roch auffällig nach Erde und der
Berg schmutzige Wäsche lag immer noch auf dem Boden im Flur.
Auf dem Boden in der Küche erblickte er Fußspuren wie die von
schweren Gartenstiefeln, die ins Wohnzimmer führten. Was war
hier los? Sona zog seine Waffe und schlich, nachdem er erst mehr-
mals tief Luft holen musste, an der Wand entlang – und stolperte
fast über einen Spaten und einen rostigen Gartenzaunpfahl, der
dort lehnte. All das kam ihm auf einmal erschreckend bekannt
vor. Ihm wurde schwindelig, die Welt schien sich vor Sonas Au-
gen zu drehen. Er atmete noch einmal tief ein, drehte sich blitz-
schnell um, richtete die Waffe in Richtung Sofa und da sah er sie,
die Person, die ihn in seinen Albträumen verfolgt hatte. Es dauer-
te einige Sekunden bis Leon realisierte, was da auf seiner Couch
drapiert war – die Leiche. Ein markerschütternder Schrei, Augen-
blicke bevor er zusammenbrach.
Münchner Kinder-Krimipreis, Lisa S.
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