Es war später Nachmittag, fast schon Abend. Emma war auf dem
Heimweg von einem Besuch bei ihren Verwandten und bestieg gerade
den Regionalzug nach Hause. Raus aus der Einöde! Endlich in die Zivilisation.
Ihre Mutter warnte sie immer, sie solle nicht alleine mit dem
Zug fahren, weil das gefährlich war. Doch jetzt war sie 20 und
schlug die Warnungen ihrer Mutter in den Wind. Sie wusste sehr
gut, was alles passieren könnte und war deshalb auch vorsichtig.
Ein kleines Mädchen, das an ihrem Kleid zupfte, riss sie aus
ihren Gedanken. „Hast du meine Mama gesehen?“ Emma schüttelte
den Kopf. Nein, sie hatte keine verzweifelte Frau gesehen,
die einen Namen durch die Gegend rief. „Wie heißt du denn, Kleine?“
„Lillia.“ „Das ist aber ein schöner Name.“ „Ich weiß.“
Unverschämt, die Kleine. Lillia hatte mit ihrer kleinen Hand
Emmas umgriffen und es schien nicht so, als wollte sie loslassen.
„Ist deine Mutter schon im Zug?“, fragte Emma das Mädchen
in einem etwas gereiztem Ton. „Ja.“ Emma zog Lillia gerade noch
rechtzeitig in den Zug, als die Türen sich hinter ihnen schlossen.
Erst jetzt beschloss Lillia Emmas Hand loszulassen und spazierte
schnurstracks in das nächste Abteil. Sie wusste also doch, wo ihre
Mutter war. Komisches Kind.
Emma dachte nicht weiter darüber nach und ging zu ihrem
resevierten Sitzplatz. Wie der Zufall es wollte, lag der in genau
demselben Abteil, in das Lillia gegangen war, bloß einige Reihen
weiter vorne. Sie lugte über die Sitzreihen, um einen Blick auf
die unverantwortliche Mutter zu werfen, die ihr Kind einfach auf
dem Bahnsteig stehen ließ. Was Emma jedoch erspähte, waren
Lillias kleine Händchen, die sich am Arm einer sichtlich verwirrten
Frau festklammerten. „Mama!“, rief sie glücklich und umarmte
die Frau. „Das ist nicht meine Tochter!“, sagte diese jedoch
verzweifelt. Kurzerhand packte Lillia den Arm fester an und verschwand
mit der Frau im Abteil weiter vorne. Endlich Ruhe, was
für Emma bedeutete, dass sie sich gemütlich in ihrem Stuhl ausbreitete
und einschlief. Sie wollte sich nicht länger mit diesem
komischen Mädchen abgeben. Das war schließlich nicht ihr Problem!
Darum sollte sich jemand anderes kümmern.
Ungefähr eine halbe Stunde später ging es wieder los. Lillia
war zurückgekehrt und suchte sich einen neuen Erwachsenen
aus, den sie als ihr Elternteil schilderte. Das ging die ganze Zugfahrt
so und Emma kriegte kein Auge zu. Nach drei Stunden Fahrt
war sie erschöpft und erleichtert zugleich. Niemand hatte etwas
gegen das Kind getan, das einen nach dem anderen aus dem Abteil
„entführte“. Emma hatte einfach angenommen, dass das Mädchen
ein seltsames Spiel spielte und die Erwachsenen einfach
ausgestiegen waren, bis sie am Tag danach ihren morgendlichen
Kaffee trank, die Zeitung aufschlug und stutzte. Eine der Überschriften
lautete: „21 Erwachsene verschwinden auf mysteriöse
Weise aus einem Zugabteil – Grund bisher unbekannt“.
Die Mini-Münchner Stadtschreiber*innen 2020, Yasmin B.
Verwendet für folgendes Produkt des w ö r t e r k i o s k: einschlagheft
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